Die Geschichte der Veröffentlichung von Liber AL vel Legis lässt sich in sechs zentrale Phasen gliedern. Jede dieser Etappen ist für das thelemische Textverständnis und die Entwicklung des kanonischen Status von Bedeutung.
1904 – Manuskriptentstehung (Liber XXXI)
Aleister Crowley empfing das Buch in drei Teilen am 8., 9. und 10. April 1904 in Kairo. Er schrieb es eigenhändig in ein linierte Schulheft nieder. Dieses Originalmanuskript wurde von ihm später als Liber XXXI bezeichnet und gilt als einzig autoritative Textquelle. Es enthält eigenwillige Interpunktion, Großschreibung und Einfügungen, die Crowley später als unveränderlich erklärte.
1909 – Erste Druckveröffentlichung (The Equinox I,7)
Die erste gedruckte Fassung erschien 1909 im Anhang von The Equinox, Vol. I, No. VII. Diese Version war typographisch gesetzt, ohne Faksimile oder Hinweis auf das Originalmanuskript. Sie enthielt redaktionelle Eingriffe in Zeichensetzung und Schreibweise. Dennoch markiert sie die erste öffentliche Präsentation des Buches.
1912 – Deutsche Oriflamme-Ausgabe (Berlin)
Im Rahmen der O.T.O.-Zeitschrift Oriflamme wurde Liber AL erstmals in Deutschland verbreitet – vermutlich ohne direkte Beteiligung Crowleys. Auch hier lag kein Faksimile vor. Die Textfassung basierte auf dem Equinox-Druck und wurde teilweise frei übertragen. Diese Ausgabe hatte für die deutschsprachige Rezeption des Buches frühe Bedeutung.
1913 – Eigenständige Druckausgabe
Crowley ließ eine separate Einzelausgabe drucken, typographisch nahe an der Version von 1909. In dieser Phase betrachtete er den Text noch nicht als absolut unveränderlich. Fußnoten, Einleitungen oder Kommentare fehlten.
1936–1938 – The Equinox of the Gods (mit Faksimile)
Mit The Equinox of the Gods (1936/38) veröffentlichte Crowley erstmals das vollständige Faksimile des handschriftlichen Originals. In dieser Ausgabe erklärt er das Manuskript für kanonisch und unantastbar. Er betont, dass selbst scheinbare Fehler – z. B. Großschreibung, Interpunktion, Einfügungen – nicht geändert werden dürfen. Diese Haltung markiert einen Wendepunkt: Liber AL vel Legis wurde fortan als direkt geoffenbarter Text betrachtet, dem auch Crowley selbst nichts hinzufügen oder nehmen dürfe.
1947–1984 – Verlust und Wiederauffindung des Manuskripts
Nach Crowleys Tod im Jahr 1947 galt das Originalmanuskript jahrzehntelang als verschollen. Erst 1984 wurde es in einem Nachlassstück von Karl Germer (Crowleys Nachfolger als O.H.O. des O.T.O.) in den USA wiederentdeckt – in einer Truhe in New Jersey. Es befand sich im privaten Besitz und war lange nicht zugänglich. Nach seiner Wiederauffindung wurde es offiziell archiviert, digitalisiert und in mehreren O.T.O.-Editionen reproduziert.
Heute ist das Originalmanuskript öffentlich einsehbar, unter anderem in der digitalen Ausgabe der Equinox of the Gods und über das Internet Sacred Text Archive. Es bildet die allein verbindliche Textgrundlage für jede authentische thelemische Arbeit mit Liber AL vel Legis.
Glossar
Liber AL vel Legis
Lateinisch für „Buch AL oder [des] Gesetzes“. Der Originaltitel des Werks, das Aleister Crowley im April 1904 empfing. Wird auch als The Book of the Law bezeichnet.
Liber XXXI
„Buch 31“. Interne Bezeichnung Crowleys für das handschriftliche Originalmanuskript von Liber AL vel Legis, das er als einzig autoritative Quelle anerkannte.
O.T.O.
Ordo Templi Orientis. Ein initiatorischer Orden mit esoterischer Ausrichtung, dem Crowley ab 1910 angehörte. Ab den 1920er-Jahren war Crowley dessen Leiter (O.H.O.). Der O.T.O. übernahm die Verbreitung und Archivierung thelemischer Schriften.
The Equinox
Eine von Crowley zwischen 1909 und 1913 herausgegebene Zeitschrift für Magie, Mystik und Thelema. Diente als Veröffentlichungsorgan für zentrale thelemische Schriften, darunter die erste Druckfassung von Liber AL vel Legis (1909).
The Equinox of the Gods
Ein 1936/1938 veröffentlichtes Werk Crowleys, das erstmals das vollständige Faksimile des handschriftlichen Liber AL-Manuskripts enthielt. Enthält zusätzlich autobiographisches Material zur Entstehungsgeschichte und Kommentierung des Buches.
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