Über das Buch AL – Brief an eine Schülerin

(Magick Without Tears, Kapitel XLVIII, ca. 1943–44)

MAGICK WITHOUT TEARS
Von Aleister Crowley

Kapitel XLVIII: Die Moral von AL – schwer zu akzeptieren und warum wir dennoch zustimmen müssen

Cara Soror,

Tu, was du willst, soll das ganze Gesetz sein.

Kein lebender Mensch kann die Schwierigkeiten, die mit The Book of the Law verbunden sind, besser nachvollziehen als ich.

Du bittest mich – wenn ich deine etwas komplizierte Fragereihe richtig analysiert habe – dir zu raten, wie du dich diesem Buch gegenüber verhalten sollst.

Natürlich könnte ich dir bei detaillierten Erklärungen nur auf den umfangreichen Kommentar verweisen, Vers für Vers, der noch auf seine Veröffentlichung wartet.1 Aber ich denke, ich kann das Wesentliche in einem nicht zu langen Brief zusammenfassen.

Zunächst: Der Autor ist mit Sicherheit sowohl mehr als menschlich als auch etwas anderes als menschlich.

Sein Hauptziel scheint mir darin zu bestehen, die magische Formel des Äons des Horus zu verkünden und die grundlegenden Verhaltensprinzipien festzulegen, die damit vereinbar sind.

Ich nenne das zuerst, weil deine Schwierigkeiten zu diesem Teil des Buches gehören.

Aber lassen Sie mich die Hauptbestandteile sortieren:

(1) Es gibt ein System erhabener Philosophie, das völlig unabhängig von jedem Äon oder jeder anderen begrenzten Bedingung ist.

(2) Ein erheblicher Teil des Inhalts scheint sich persönlich auf „Das Tier“ und „Die Scharlachrote Frau“ zu beziehen; aber diese Titel dürften sich auf jede Person beziehen, die eines dieser Ämter während des gesamten Zeitraums des Äons innehat – etwa 2000 Jahre.

(3) Die Sexualmoral des Buches unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die seit Anbeginn der Welt heimlich von Aristokraten vertreten wird. Sie entspricht dem System eines Menschen, der alle seine Komplexe, Hemmungen, Fixierungen und Phobien psychoanalytisch überwunden hat.

(4) Wie das Matriarchat die Formel des Äons der Isis widerspiegelte und das Patriarchat jene des Osiris, so drückt die Herrschaft des „Gekrönten und Erobernden Kindes“ jene des Horus aus. Familie, Sippe, Staat zählen nichts; das Individuum ist der Autarch.

(5) Das Buch verkündet eine neue Dichotomie in der menschlichen Gesellschaft: Es gibt den Herrn und den Sklaven; den Edlen und den Leibeigenen; den „Einsamen Wolf“ und die Herde. (Nietzsche mag als einer unserer Propheten gelten; in geringerem Maße auch de Gobineau.) Hitlers „Herrenvolk“ ist eine nicht allzu unterschiedliche Idee; aber es gibt kein Volk darin – und wenn doch, dann sicher nicht das pflichtversessene, uniformverliebte, gesetzestreue, schutzsuchende deutsche. Der Brite, besonders der Kelte, ein natürlicher Anarchist, trifft es da schon eher. Briten werden sich niemals in einer Sache einig sein, es sei denn, jeder einzelne fühlt sich unmittelbar bedroht.

Nun muss ich dir eine Geschichte erzählen, die vielleicht vieles erhellt, was an der politischen Lage von '25 bis heute dunkel ist. Die ehrwürdige Dame (S.H. Soror I.W.E. 8○ = 3□2), die nach dem Tod von S.H. Frater 8○ = 3□ Otto Gebhardi seine Rolle als meine Vertreterin in Deutschland übernahm (das betrifft alles die A∵ A∵; der O.T.O. ist daran nicht direkt beteiligt), erreichte den Grad des Einsiedlers (AL I, 40). Beobachtend, was sich in Europa zutrug, wurde sie mehr und mehr davon überzeugt, dass Adolf Hitler ihr „magisches Kind“ sei; und sie hielt es für ihre Pflicht, ihr Leben (denn der Einsiedler „gibt nur von seinem Licht an die Menschen“) seiner magischen Erziehung zu widmen. Da sie wusste, dass die Welthegemonie jener Nation zufallen würde, die zuerst das Gesetz von Thelema annähme, beeilte sie sich, das Buch des Gesetzes ihrem „Kind“ zu überreichen. Es machte auf ihn zweifellos den tiefsten Eindruck, besonders da sie ihn mit dem feierlichsten Eid zur Verschwiegenheit über die Quelle seiner Macht verpflichtete. (Offensichtlich wollte er sie nicht mit anderen teilen.) Von Zeit zu Zeit, wenn es die Umstände nahelegten, schrieb sie ihm und legte relevante Passagen meines Kommentars bei, von dem ich ihr bei der „Zeugnis“-Zeremonie ein Exemplar gegeben hatte.2

Wäre Hitler eine weniger abnormale Persönlichkeit gewesen, wäre kein großes „Unheil“, oder zumindest ein sehr anderes, daraus entstanden. Ich denke, du hast Hitler spricht gelesen – wenn nicht, dann tu es – seine privaten Gespräche enthalten fast wortgetreue Zitate aus dem Buch des Gesetzes. Doch die privaten Worte eines öffentlichen Mannes lassen sich nur unter Lebensgefahr auf einer politischen Plattform wiederholen; und er servierte dem Volk nur das, was ihren grobschlächtigen Gaumen kitzelte. Schlimmer noch, er war ein Sklave seines prophetischen Rausches; er hatte nicht das ausgleichende Regimen des Curriculums der A∵A∵ durchlaufen; und am schlimmsten: Er war weit davon entfernt, ein vollständiger Eingeweihter zu sein, selbst im weitesten Sinne des Wortes. Seine Weltanschauung war daher ein Wirrwarr aus persönlichen und politischen Vorurteilen; er hatte kein wahres kosmisches Verständnis, keine echte Wertschätzung der ersten Prinzipien; und er wurde von allen Seiten hin- und hergeworfen von den widersprüchlichen Kräften, die sich natürlich zunehmend auf ihn konzentrierten, je mehr seine persönliche Position zur dominierenden Kraft erst der inneren, dann der europäischen Politik wurde. Ich warnte unsere S.H. Soror wiederholt, sie solle diese Tendenzen korrigieren; aber sie sah den Erfolg ihrer Pläne schon zum Greifen nah und weigerte sich zu glauben, dass eben dieser Erfolg die Welt alarmieren und zum gemeinsamen Angriff auf ihn veranlassen würde. „Aber wir haben doch das Buch“, entgegnete sie zuversichtlich, unfähig zu sehen, dass die anderen Mächte im äußersten Notfall gezwungen wären, dieselben Prinzipien zu übernehmen. Natürlich ist es, wie du weißt, so gekommen, wie ich es vorausgesagt hatte; nur ein Rest von Frömmigkeit-gereinigten Prälaten und weichlichen Gefühlsduseligen hält sich noch gegen das Buch des Gesetzes, sabotiert den Sieg und wird den Frieden in ein Schlachtfeld der Kapitulation verwandeln, wenn wir dumm genug sind, auf ihr Gejammer zu hören – wie in der Geschichte vom hochverehrten Kater, dessen glühender Verehrer endlich ein Treffen mit ihm erreicht: „Alles, worüber er sprach, war seine Operation.“

Kam dir dieser Exkurs zu lang vor? Ach, aber er ist kein Exkurs. Richtig betrachtet trifft er das Herz deiner „Schwierigkeiten“.

The Book of the Law führt uns zurück zur primitiven Wildheit“, sagst du. Nun gut – wo stehen wir denn?

Wir stehen bei Guernica, Lidice, Oradour-sur-Glane, Rotterdam und hunderten anderen Verbrechen, ganz zu schweigen von Konzentrationslagern, Stalags und Millionen kleinerer Gräueltaten und Abscheulichkeiten, die sich selbst die kränkeste sadistische Phantasie vor vierzig Jahren nicht hätte ausmalen können.

Du widersprichst Aiwass – wie wir alle. Das Problem ist nur: Er kann sagen: „Ich diskutiere nicht; ich sage es dir.“

Also lasst uns etwas tiefer (und hoffentlich klarer) in seine Ethik blicken, mit einem Verstand, der von menschlicher Emotion ungetrübt ist.

Aiwass ist ein Wesen anderer Ordnung als wir. Stell dir einen Goldscheider vor. „Analyse zeigt 20 % Kupfer in dieser Probe; ich werde sie mit Sauerstoff durchströmen, das wird das Kupfer oxidieren. Mit Schwefelsäure durchschütteln; dann wird das Kupfersulfat ausgewaschen, und das war’s.“ Er überlegt nicht, wie das Kupfer sich dabei fühlt; er glaubt nicht einmal, dass das Kupfer irgendetwas davon weiß.

Ja, ja, natürlich; ich weiß, das ist ein Extremfall. Ich bringe ihn nur ein, um zu zeigen, was im letzten Notfall getan werden könnte. Glücklicherweise ist unsere Lage nicht so schlimm. Du wirst, vermute ich, auch ohne meine Hilfe an den Chirurgen und den Schulmeister denken; aber ich habe ein noch besseres Beispiel. Wir haben in der neueren Geschichte einen fast exakten Parallelfall.

Wie habe ich diesen Brief begonnen? Indem ich die Aufgabe des Autors definierte: die magische Formel des Äons des Horus zu verkünden und so weiter. Mit anderen Worten: die Menschheit auf den Umgang mit einer neuen Kraftquelle vorzubereiten.

Auftritt Professor Röntgen! Auftritt Familie Curie!

Wie viele „Märtyrer der Röntgen-Dermatitis“? Freiwillige Forscher, die das Risiko kannten? Nicht alle; viele Patienten starben an den Verbrennungen in größter Qual. Wie viele Opfer gab es durch die „Radiumbombe“? (War das nicht in Guy’s?) Es muss immer passieren, selbst mit bewährten Mitteln und trotz größter Vorsicht. Wie viele Arbeiterleben kostete die Forth Bridge? Du weißt vermutlich, dass eine gewisse Zahl tödlicher Unfälle stets in die Kalkulation jedes öffentlichen Bauvorhabens eingeht.

Aber eine neue magische Formel ist eine Sache von weitaus größerem Ausmaß. Denk einen Moment zurück an das letzte Mal, als Osiris Isis ablöste. In jenem großen Umbruch stürzten nicht nur Reiche, sondern ganze Zivilisationen nacheinander zusammen. Drei Viertel des Äons vergingen, bevor der Wein jener Ernte wirklich trinkbar war.

Ich erwarte und hoffe, dass es diesmal (da die Kommunikation weltweit besser, die Grundlagen stabiler und alles im Allgemeinen schneller ist) möglich sein wird, die Ernte in wesentlich kürzerer Zeit zu genießen. Aber zum Teufel, es ist kaum vernünftig, nach nur 40 Jahren schon die vollständige Frucht zu erwarten.

Was mir als das ermutigendste Zeichen erscheint, ist dies: das Buch selbst, und das darauf basierende System der Magie sowie der Bankrott aller früheren Systeme (wie ausgeführt in Eight Lectures on Yoga, Magick, The Book of Thoth und ähnlichen Werken) liefern uns allen eine klare, präzise, praktische Methode (frei von jedem Aberglauben und Glaubensgeschwätz), durch die jeder von uns zur „Kenntnis und Konversation des Heiligen Schutzengels“ gelangen kann – und zu vielen weiteren Wesen von Intelligenz und Macht, die unermesslich erhabener sind als alles, was wir als menschlich anerkennen – und, so hoffen wir, fähig, uns einen Funken Weisheit zu schenken, der ausreicht, um uns aus dem Morast zu ziehen, in den die Krise uns vorübergehend gestürzt hat!

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

Brüderlich dein,

666

P.S. Es schien besser, das wichtigste Argument als Nachsatz zu bringen, da es völlig eigenständig ist. Es lautet:

Die Bedeutung des Buches liegt „...nicht nur im Englischen...“ usw. (AL I, 36; I, 46; I, 54, 55; II, 76; III, 16; III, 39; III, 47; III, 63–68; und III, 73). Diese Stellen machen deutlich, dass es eine geheime Auslegung gibt, die, da sie verborgen ist, vermutlich von noch größerer Bedeutung ist als der Text, wie er dasteht. Die Passagen, die ich entschlüsseln konnte, bestätigen diese Sicht; ebenso die Entdeckung der Schlüsselzahl 31 durch Frater Achad.3 Wir müssen auch erwarten, dass ein Genie erscheinen wird, das all diese Arbeit für uns leistet. Wieder wissen wir, dass viele Informationen von höchstem Wert durch die hebräische, die griechische und sehr wahrscheinlich auch die arabische Qabalah gegeben wurden.

Es gibt nur eine logische Schlussfolgerung aus diesen Voraussetzungen. Wir wissen: (a) das Buch bedeutet mehr, als es zu bedeuten scheint, (b) diese innere Bedeutung kann die äußere Bedeutung verändern oder gar umkehren, (c) das, was wir verstehen, überzeugt uns davon, dass der Autor des Buches tatsächlich der ist, der er behauptet zu sein; und deshalb müssen wir das Buch als Kanon der Wahrheit akzeptieren und geduldig nach weiterem Licht suchen.

Dieser letzte Punkt hat besonderen Wert: siehe AL III, 63–68. Der Wert des Buches für dich steht in direkter Beziehung zu deinem eigenen Initiationsgrad.

 

Quellen:

Aleister Crowley: Magick Without Tears, Kapitel XLVIII: "Morals of AL—Hard to Accept, and Why nevertheless we Must Concur". Geschrieben ca. 1943–1944, veröffentlicht posthum 1954. Online-Quelle: hermetic.com/crowley/magick-without-tears/mwt_48

Editorische Fußnoten: 

1) Vollständiger Kommentar: Magical and Philosophical Commentaries, 1974; 

2) Martha Küentzel; 

3) Liber 31 von Frater Achad.

Hermetic.com

 

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